Anekdoten aus der Saurer Zeit

  • 40 Dienst Jahre  als Saurer Angestellter, Alfred Trentin 

Ein Arbeitsjubilar von Alfred Trentin

Am 7. Dezember 1942 trat Alfred Trentin seine Arbeit bei Saurer an, nachdem er zuvor in Schaffhausen als Ausläufer einer Bäckerei gearbeitet hatte. Er war damals 17 Jahre alt. Sehr zu seinem Erstaunen wurde er als Botenjunge eingesetzt, in den Büros. Alfred Trentin traute sich die Arbeit im Büro nicht zu, wollte abwehren. Er hatte eher an eine leichte Hilfsarbeit in den Fabrikhallen gedacht, er, der in der Schule wegen Kränklichkeit häufig gefehlt und deshalb weder Schulabschluss noch Berufslehre vorzuweisen hatte. Ungebildete Leute wie er, dachte er, gehören doch nicht ins Büro.

In einem Börsenkommentar vermeldete damals die «Handelszeitung» ansteigende Aktienkurse und «eine gewisse Belebung des Geschäfts», weil «militärische Ereignisse von kriegsentscheidender Bedeutung bisher ausgeblieben sind». Saurer blickte «auf eine hocherfreuliche Arbeitsperiode zurück, die infolge des Krieges und bestimmter damit verbundener Bedürfnisse den Produktionsprozess sehr zu beleben vermochte».

Alfred Trentin sein 40-Jahr-Arbeitsjubiläum bei Saurer. Dieser Tag, sagte mir Personalchef Henggeler am Telefon, gestalte sich meistens so, dass der Jubilar seinen Arbeitskollegen am Vormittag einen kleinen Imbiss offeriere, den Nachmittag aber für sich privat gestalte.

Die Lage ist kritisch. Saurer hat seine Lastwagenproduktion an Mercedes-Benz verkaufen müssen.

Es dürfte zu Entlassungen kommen. Nur gerade die alleroberste Firmenleitung hatte von der Transaktion gewusst. Für alle andern kam die schlechte Nachricht überraschend. Alfred Trentin hat Glück. Einige Monate vor dem Verkauf war er aus der unsicheren Lastwagenproduktion in das Terminbüro der Abteilung Textilmaschinen versetzt worden. Dort ist Saurer besser dran. Alfred Trentin sagt: «Ich hoffe, dass Ich die paar Jahre bis zur Pension hier noch überlebe. Wir alle müssen hoffen, dass es mit Saurer noch aufwärtsgeht.» Es tönt fast wie ein Gebet.

Herr Trentin hatte aus dem Esszimmerfenster gesehen, wie ich durch die kleine Genossenschaftssiedlung an der Stacherholzstrasse in Arbon ging und die Nummer 15a suchte. Er stand an der Haustür, als ich ankam, und sagte: «Kommen Sie herein!»

Im Wohnzimmer fiel mir die Polstergruppe auf, eine von denen, wie sie vor 20, 25 Jahren zu Tausenden in einfache Schweizer Stuben zu stehen kamen: graugrüner Stoff, Messingnägel mit runden Köpfen, glattpolierte, hölzerne Armlehnen. Frau Trentin sass am Esszimmertisch und schenkte Kaffee ein, bot dazu frischgebackene Weihnachtsguetsli an. Ich fragte Herrn Trentin, wie das sei, wenn man vierzig Jahre lang im gleichen Betrieb arbeite.

Er hob kurz die Hände vom Tisch und liess sie wieder sinken. Da gebe es nicht viel zu sagen. Er lehnte sich etwas zurück und fasste sein Arbeitsleben zusammen: «Am Anfang hat man natürlich nicht an so etwas gedacht. Als man anfing, dachte man, das sei für ein paar Jahre. Dann hat man geheiratet und Kinder gehabt und wollte nicht mehr zügeln. Man hatte eine Aufgabe und eine Verantwortung.

Man hatte auch diese schöne Wohnung. Dann hat man fünfundzwanzig Jahre gehabt, und jetzt sind es schon vierzig. Das häuft sich so an, man merkt es gar nicht.» Es sei schon mehr als zwanzig Jahre her, dass er das letzte mal an einen Wechsel gedacht habe. Frau Trentin sagte: «Er hat mir manches mal leidgetan, wenn er so früh auf musste, jeden Morgen, jahraus, jahrein, jeden Morgen ins gleiche Büro. Wie viele Male habe ich bei einer Fabrikbesichtigung gehört: Ihr Mann ist ein Angenehmer. Mit dem kann man gut zusammenarbeiten. Es ist schön, wenn man so etwas hört.» «Ja, du wirst schon estimiert bei Saurer. Du kannst dich nicht beklagen.» Er beklagt sich nicht. Herr Trentin sagte: «Wenn man am Morgen in die Bude geht und die Sonne rot über dem Bodensee aufgeht und der ganze Himmel knütschrot ist, ist man froh. Ich bin glücklich. Wir haben es recht und schön, und die Frau steht auch tapfer zu einem.» Frau Trentin nahm das Kompliment lächelnd an. «Ich danke dir», sagte sie und deutete eine Verbeugung an.

Herr Trentin ergänzte: «Die Familie gibt einem Ruhe.» Das sei wichtig, denn in letzter Zeit sei es in der Fabrik schwieriger geworden. «Wissen Sie, wenn Sie alle Tage in die Firma gehen und arbeiten, und man ist da, und wenn es dann am Schluss des Jahres heisst: «Es hat nicht rentiert, man hat wieder Defizite!», kann das einem Magengeschwüre machen.» Am Morgen des Jubiläumstages sind die Trentins zeitig aufgestanden und haben alles für das kleine Festchen in der Fabrik vorbereitet. Herr Trentin steht am offenen Kofferraum des Autos und kontrolliert: Brötchen, Bier, Wein, Kuchen, Kaffee. Auch der Kaffeerahm ist da. «Das ist glaube ich alles», ruft er. «Oben ist nichts mehr», sagt sie. Die beiden steigen ins Auto und fahren zur Fabrik, deren Gelände bis auf hundert‘ Meter an die Genossenschaftssiedlung herankommt. Er trägt ein graues, offenes Hemd, dunkle Hosen und eine Strickjacke. Sie hat etwas Puder aufgelegt. Ihre Lippen sind sehr rot.

Die schwere Tür des Gebäudes kracht ins Schloss. Der Boden im Gang ist schwarz von Metallstaub und ÖL Über eine steile Treppe trägt Alfred Trentin die Esswaren in das Büro, wo er seit einem halben Jahr arbeitet. Eine Fensterfronttrennt es von der Fabrikhalle ab. Eine andere Scheibenfront geht hinaus aufs Fabrikgelände. Das Büro ist gross, und das Mobiliar ist alt. In einer Ecke stehen einige Garderobekästchen aus dunkelgrauem Stahlblech. An einer Wand hängt ein Panoramabild von der Südrampe des San Bernardino.

Trotz einigen vorweihnachtlichen Tannenzweigen mit Schokoladeschmuck und trotz dem weissgedeckten Gabentisch,wirkt das Büro kahl. «40 Dienstjahre! Zum Jubiläum

gratulieren Deine Arbeitskameraden herzlich und wünschen weiterhin alles Gute und persönliches Wohlergehen», sagt eine grosse, sauberpolierte Schrifttafel. Daneben stehen ein Früchtekorb, ein gerahmtes Diplom der Firma Saurer, einige Flaschen Wein aus der

Bündner Herrschaft, zwei Geschenkpakete, eine grosse Glückwunschkarte der Arbeitskollegen, ein Couvert mit der Mitteilung, dass die Firma dem Jubilar soundso viele tausend Franken als Gratifikation überweisen werde, etwas mehr als einen Monatslohn. Ein Arbeitskollege hat aus Zahnrädern einen Kerzenständer gebastelt und auf dem Sockel einige Verse eingraviert:

Schon vierzig Jahre mit weiser Miene,
Jagt Herr Trentin die Termine.
Weit tönt es in aller Munde,
Beim Freddy klappt’s auf Tag und Stunde.

Würden sich alle so gebaren, Gäbs Saurer noch in tausend Jahren, Die Zahnräder seien Ausschuss des neuen Stickmaschinenautomaten, sagt Herr Trentin. Er kennt auch die 1 Lagernummer hundertunddrei. Zwischen die Geschenke hat Frau Morson, die Sekretärin, einige Blumen gelegt. «Den Tisch haben Sie sehr schön gemacht», sagt Frau Trentin.

«Und auch die Tannenzweige.» Herr Trentin öffnet eine Flasche Wein. Er ist etwas nervös und hat Mühe mit dem Korken. Dann öffnet er die beiden Päckchen. Das grössere enthält eine Wanduhr mit einem grossen Saurer-Signet auf dem Zifferblatt. Herr Trentin ist gerührt. Die Uhr freue ihn ungemein, sagt er und fragt Frau Morson, wo sie dieses Signet noch habe auftreiben können. «Für Sie, Herr Trentin, ist mir keine Mühe zu viel», sagt sie. Vizedirektor Hitz und Abteilungsleiter Perret gehören zu den ersten, die vorbeikommen. «Herzliche Gratulation!» — «So, wie geht es, so nach vierzig Jahren?» Trentin nimmt die Gratulation entgegen und schenkt Wein ein. Sie sollen sich doch bedienen, sagt er, da habe es Salamibrötchen. Hitz zögert. Oder ob sie vielleicht lieber ein Stück Kuchen hätten, fragt er. «Nein, nein», sagt Hitz, es sei nicht, dass er nicht wolle, aber er habe eben erst gefrühstückt.

Andere Gratulanten kommen. Hitz und Perret stehen zusammen und tauschen Erlebnisse von den grossen Herbstmanövern aus, «Ja, ich war voll im Graben», sagt Hitz. Trentin erzählt später, Hitz sei etwas Höheres, Major oder so. Vom Werk 1, wo Trentin bis vor einem halben Jahr gearbeitet hat, kommt eine ganze Delegation, acht Arbeiter in blauen und zwei Meister in orangegelben Kutten.

Sie gratulieren der Reihe nach. Jeder nimmt sich ein Brötchen und ein Bier. Dann stellen sie sich in die Ecke bei den Garderobekästchen und sind verlegen. «Ja, der Trentin», sagt einer. «Was meinst du», sagt ein anderer und stösst seinen Nachbarn mit dem Ellbogen an, «wenn du auch einmal vierzig Jahre dabei bist.» Der Angesprochene ist noch jung. Er lacht ungläubig. Wer mit seinem Bier und Brötchen fertig ist, steckt die Hände in die Hosentaschen. Ein kleiner, grauhaariger Mann mit einem Stativ unter dem Arm und einer schwarzen Tasche über der Schulter kommt herein. Er stellt das Stativ auf und montiert seine Hasselblad und fragt: «Welches ist der Jubilar?

Herr Trentin stellt sich vor den Gabentisch. Er hält die Hände hinter dem Rücken verschränkt, zieht den Hals ein und macht ein wenig einen Buckel. So wirkt er kleiner, als er in Wirklichkeit ist. Der Fotograf macht drei Bilder, Dann packt er Kamera und Stativ wieder zusammen und geht. Ausser der Frage, welches der Jubilar sei, und zwei, drei kleinen Anweisungen, wie dieser am besten hinzustehen habe, hat er kein Wort gesagt. «Für die Werkzeitung», erklärt mir ein Arbeiter. Die in den blauen Kutten trinken Bier, die in den orangegelben Kutten trinken Bier oder Wein, die in den weissen Hemden trinken Wein, und die Frauen trinken Kaffee. Alle kommen, bleiben eine Viertelstunde, höchstens eine halbe, und gehen dann wieder. Alfred Trentin schüttelt Hände, nimmt Glückwünsche entgegen und schaut manchmal den Gabentisch. Immer wieder sagt er, wie ungemein ihn die Uhr mit dem Saurer-Signet freue, wie er kaum zu hoffen gewagt habe, ein solches Signet zu bekommen, und jetzt habe er es. Er sorgt dafür, dass jeder zu essen und zu trinken bekommt. Man hört nicht viel von ihm.

Langsam versiegt der Strom der Gratulanten, und nach zehn Uhr sind nur noch Frau Morson und die Trentins im Büro. Zu dritt gehen sie die Spenderliste durch. Es sei viel Geld zusammengekommen, sagt Frau Morson. «Mehr als hundert haben etwas gegeben.» Daran sehe man, wie beliebt Herr Trentin sei. «Der Stieger war nicht da», sagt Trentin. «Der Willi auch nicht. Und der Felix, war der da?» «Ja, der war da», sagt Frau Morson. Für jeden, der gespendet hat, der aber nicht vorbeigekommen ist, legen sie ein Salamibrötchen und ein Fläschchen Bier auf die Seite. Frau Morson wird dafür sorgen, dass jemand es ihnen bringt.

Man will keinen vergessen. Die Tür geht auf, und ein grosser, grauhaariger Mann kommt herein. Frau Trentin läuft auf ihn zu und gibt ihm einen Kuss. «Herr Ziegler», ruft sie, «dass Sie noch gekommen sind.» Sie hat ihn vor ein paar Tagen auf der Strasse getroffen und hat ihm vom Jubiläum ihres Mannes erzählt, und er hat versprochen, dass er auch noch 2 vorbeikomme. Der alte Herr war Trentins erster Chef. Er war es, der den jungen Trentin vor vierzig Jahren aufs Büro genommen hat. Die Überraschung ist geglückt. Trentin freut sich. Herr Ziegler gratuliert und gibt Alfred Trentin eine Flasche in Geschenkpapier. Da habe er noch ein wenig Sirup mitgebracht, sagt er und lächelt. Die beiden Männer stehen einander gegenüber und wissen nicht recht, was sie sagen sollen. Nach einer Viertelstunde geht Herr Ziegler wieder.

Im Auto, während der Kurzen Fahrt vom Fabrikgelände nach Hause, sagte Frau Trentin:
«So Freddy, jetzt ist der Teil vorbei, den du am unliebsten hattest.» «Ja», sagte er, «aber wenn man dann dort ist, gefällt es einem besser. Vor allem hat mich gefreut, dass so viele gekommen sind. Es zeigt einem, dass man eben doch noch so . . .» Er machte den Satz nicht fertig. Am Mittag sind Herr und Frau Trentin ins Appenzellische gefahren und haben dort ein Fondue gegessen. Beim Kaffee sagte Alfred Trentin, er sei zufrieden, er habe, was er wollte. «Eine liebe Frau, anständige Kinder, eine angenehme Wohnung, und dann, in den Sechzigern, konnte man auch an einen Luxus denken und hat sich ein kleines Auto gekauft.» Mehr als das wolle er gar nicht. «Man muss sich seine Ziele so stecken, dass man sie erreichen kann.»

Alfred Trentin hat sich nie abgestrampelt, um auf dem Firmenleiterchen höherzukommen, und trotzdem sitzt er heute mit den Meistern am gleichen Tisch, wenn es Zeitabläufe zu besprechen gilt. Er sei dann der einzige mit einer blauen Kutte in dieser Runde dergelbgekleideten Meister.

Bei einem Spaziergang oberhalb von St. Gallen überraschte der Regen Herr und Frau Trentin, und sie stiegen eine lange Treppe zu einer Kapelle hoch. Sie nahmen Weihwasser, machten eine Kniebeuge und schauten zum Altar. «Man muss dankbar sein», sagte Herr Trentin, als sie wieder draussen im Regen standen. Er hatte einen Reportermantel an. Unter der Kapuze sah er aus wie ein lustiger, kleiner Gnom. «Schon halb vier», sagte Frau Trentin, als sie wieder ins Auto stiegen. «Wie schnell die Zeit vergeht.» «Um ehrlich zu sein», sagte er, «bei der Arbeit vergeht sie auch schnell.» Nur manchmal, wenn es draussen so richtig schön sei, halte er es in seinem Büro kaum mehr aus. Dann schaue er hinaus und ärgere sich, dass man die Scheiben von aussen nicht putzen könne. «Aber daran haben sie natürlich nicht gedacht, als sie die Fabrik bauten.»

Sie fuhren durch den regnerischen Nachmittag nach Arbon zurück. «Wir haben mit dem Auto schon viel Schönes erlebt», sagte er. Ihn zieht es immer wieder nach Norden, wo es noch Platz hat, wo man noch Weite spürt. «Ich bin vielleicht extrem gern ein bisschen frei», sagte er, hob die Ellbogen und stiess sie zwei-, dreimal von sich weg, seitwärts in die Luft.

Zu Hause überlegte sich Herr Trentin, wohin er die Wanduhr mit dem Signet seiner Firma hängen solle. «Wahrscheinlich hänge ich sie in die Stube», sagte er. Während seine Frau in der Küche Tee kochte, fragte er mich, ob ich die Uhr an die Wand halten könnte. «Über dem Kanapee hat es noch Platz. Neben diesem Foto —- das ist aus Finnland», sagte er. «Ja, ich glaube, ich hänge sie dorthin.» «Mutti, komm doch mal», rief er. «Was meinst du?» «Ja», sagte sie. «Hier passt sie gut hin.»

Herr und Frau Trentin warten, bis es Zeit ist, erneut loszufahren. Sie werden sich heute Abend noch mit ihren Kindern und ihrem Schwiegersohn treffen. Alfred Trentin hat sie zur Feier des Tages zu einem Nachtessen eingeladen. Er sitzt am Esszimmertisch. Die Hängelampe taucht den Tisch in ein warmes Licht. Die beiden entfernten Ecken des Zimmers liegen im Halbdunkeln. Alfred Trentin hat die Zeitung aufgeschlagen und liest leicht. vornübergebeugt. Frau Trentin hat wieder Weihnachtsguetsli auf den Tisch gestellt. Er schaut von der Zeitung auf und sagt: «Im Zahlenlotto müssen wir mitmachen. Sie legen jetzt eine Million extra hinein.» Ich frage ihn, was er mit. einem solchen Riesengewinn machen würde. «Ich würde bei Saurer aufhören», sagt er. «Die Zeit, die man dort ist, ist gebundene Zeit, und zudem sind es ausgerechnet die acht schönsten Stunden des Tages.» Er würde dann einfach hie und da Aushilfsarbeiten leisten, ohne aufs Geld zu schauen, anfangen, wann es ihm passt, und auch aufhören, wann ihm danach zumute ist. «Man müsste sich dann nicht so einsperren lassen», sagt er. Eine Nachbarin stürmt herein, gratuliert zum Festtag, lässt ein Glas mit Guetsli und eine Flasche Cynar da und stürmt wieder hinaus. Sie müsse zum Nachtessen schauen, sagt sie. Ihr Mann komme jetzt heim. Der habe auch bald das Vierzigste, bemerkt Herr Trentin. «Was», sagt Frau Trentin, «so lange ist der schon bei Saurer!» Alle Bekannten und Freunde der Trentins arbeiten bei Saurer. Ob er bei der Gewerkschaft sei, frage ich ihn. «Am Anfang war ich.» Aber dann, mit der Heirat und mit den Kindern habe man sparen müssen. Da seien auch die paar Franken für den Mitgliederbeitrag eine Ausgabe gewesen, die man im Haushalt besser brauchen konnte. Er sei dann ausgetreten.

«Vielleicht ist das schon nicht recht gewesen. Schliesslich hat man von den Verhandlungen ja auch profitiert.» Er habe dafür versucht, mit niemandem Streit zu haben. Er sei auch niemandem in den Rücken gefallen und habe es möglichst allen recht gemacht, sagt er. Er sei damit recht weit gekommen. Um viertel nach sechs gehen die Trentins. Die Strasse ist nass, und es hat ein wenig Nebel. Auch am Steuer beugt sich Herr Trentin leicht vor. Ich sitze hinten und sehe die beiden als dunkle Silhouetten vor der scheinwerfererhellten Strasse.

Ohne sich umzuwenden, erzählt mir Herr Trentin davon, wie er eine Lehre als Hufschmied schon nach wenigen Wochen habe abbrechen müssen, weil er so schwächlich gewesen sei. «Es wäre eine sehr schöne Lehrstelle gewesen», sagt er. Dann beschreibt er seine Freude, die er verspürte, als man ihn bei der Aushebung militärtauglich schrieb. Es sei seine grösste Freude gewesen, sagt er. Dann schweigt er. Einmal sprechen die beiden von ihren Enkelkindern und fragen sich, wie es ihnen wohl jetzt gerade ergehe, so ganz allein zu Hause.

Die Tochter habe einen ganz guten Mann geheiratet, sagt sie. Er sagt, man müsse dankbar sein. Die Firma Saurer habe ihm ermöglicht, eine Familie zu gründen und Kinder grosszuziehen. Man habe eine Sicherheit gehabt und am Monatsende den Lohn. «Man hat gearbeitet und sich eingesetzt.» Nach der Pensionierung werde er sicher manchmal etwas Heimweh haben.

Das «Grüntal» ist eine auf rustikal renovierte Landbeiz wie viele andere, mit Antiquitäten und alten Waffen an den Wänden, mit weissgedeckten Tischen und Kerzen in Kerzenhaltern aus Messing. Die Familie ist vollzählig. Schwiegersohn Charlie übernimmt die Führung. Als Sohn eines elsässischen Restaurateurs ist er fürs Kulinarische zuständig. «Du Vater setzt dich natürlich oben an den Tisch, du Mutter dich vielleicht rechts neben ihn.» Er weist jedem seinen Platz zu. Alle beugen sich über die Menükarte. «Was ist ein Teller Diana?» fragt

Frau Trentin. «Eben, was da steht», sagt Charlie. «Hirschpfeffer, Spätzli, Birnen, die in Wein gekocht sind, und was so dazugehört.» «Was sollen wir für einen Wein nehmen?» fragt Herr Trentin, «Ich würde sagen, wir versuchen einen Beaujolais», sagt Charlie. «Was ist das für einer?» fragt Herr Trentin. Es sei etwas Neues, erklärt Charlie. Etwas Ähnliches wie der Beaujolais Nouveau, aber aus dem Wallis. «Du hast gut gewählt», sagt Herr Trentin, nachdem man das erste mal angestossen und den Wein versucht hat. Auch mit dem Essen sind alle zufrieden. Vater Trentin lehnt sich satt zurück. «Am liebsten habe ich das Leben mit den Händen vor dem Bäuchlein», sagt er. Auf dem Rückweg fährt Frau Trentin. Sie hat nur Mineralwasser getrunken. Das war so abgemacht. «Das war jetzt doch noch schön, dass alle gekommen sind», sagt Herr Trentin.«Ja, das war die Krönung des Tages», sagt sie, Beide schauen auf die Strasse. Es nieselt immer noch. Manchmal sagt er: «Rechts ist gut.» «Ja», sagt er, «wir haben Glückgehabt. Die Tochter ist glücklich verheiratet, und die andern haben einen anständigen Beruf.» «So, wie fühlst du dich?» fragt sie. «Gut», sagt er. «Gut und satt.» Wir fahren in Arbon ein. «Und es ist nicht zu spät geworden. Es war gerade so richtig für einen Werktag. Ich meine, am Morgen muss man ja wieder raus.»

Am andern Morgen beginnt Alfred Trentin seine Arbeit wie gewohnt um sieben Uhr. Wie immer ist er eine Zeitlang allein im Büro. Er legt einen grossen Folioband vor sich aufs Pult und geht die vielen darin aufgezeichneten Zahlen und Daten durch, blättert, schreibt sich Zahlen heraus, schreibt neue Zahlen ins Buch. Manchmal konsultiert er die Computerbogen, die zusammengefaltet vor ihm liegen, In einer Ecke steht noch die Gratulationstafel vom Vortag. «Die müsste eigentlich schon weg sein», sagt er. «Vielleicht hat heute ein anderer sein Jubiläum.»

Draussen ist es inzwischen hell geworden. Der Himmel ist aber immer noch grau und schwarz verhangen. Auf dem Kalender auf seinem Schreibtisch sind einige persönliche Daten eingezeichnet, Geburtstage und so. Der «DI Dez 7 235», der 235. Arbeitstag des Jahres 1982, ist mit einem dicken roten Filzstift gekennzeichnet,

Herr Trentin sagt: «Heute ist wieder ein Tag wie jeder andere. Das ist so. Das andere soll ein Arbeiterfesttag sein, ein Tag, an dem man… Ja, ich würde sagen… verschont wird. Am andern Tag geht man dann wieder arbeiten. Man ist schon wieder eingerichtet.» So solle es schliesslich auch sein, sagt er. Man sei ja zum Arbeiten da, nicht zum Festen.